30. August 2008

nein, schatz, es ist nichts - #1

Disclaimer: Die Links in diesem Text dienen nur der Erläuterung und/oder bieten weiterführende Informationen, man muss ihnen nicht folgen; Links in eckigen Klammern sind Quellenangaben. Ich habe mich außerdem bemüht, Jargon so weit wie möglich außen vor zu lassen oder eine Erklärung nachgeliefert. (Wer das Wort schon kannte, darf sich schlau fühlen und sich ein Bienchen in die Bildschirmecke links unten kleben.) Ununterbrochenes Lesevergnügen also – das ist ein Service! 

Schatz, ist irgendwas passiert? 
Vor einigen Tagen saß ich mit ein paar Freunden am Fluss; es war eine lange, schöne Nacht – und im Laufe des Gesprächs musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass selbst Männer, die mich schon oft mit der Treffsicherheit ihrer Beobachtungsgabe beeindruckt haben, nicht sehen, dass Mann und Frau längst noch nicht gleich sind in dieser Gesellschaft.
Gegenposition kurz zusammengefasst: Die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen in der Ausfüllung ihrer gesellschaftlichen Funktionen sei allein auf charakterliche Unterschiede der Einzelnen zurückzuführen, nicht aber auf ein (wahrscheinlich unbewusstes) Rollenverständnis. Es liegt nicht in der Absicht der Männer, Frauen zu benachteiligen – daraus folgt, dass diese Benachteiligung eingebildet oder zumindest nicht auf das Geschlecht zurückzuführen ist. 
Das hat mich nicht losgelassen und ich möchte gerne näher darauf eingehen und einige der Konzepte erklären, die ich so forsch anbrachte und meine damals vom Alkohol beschwingten Gedanken in etwas geordnetere Bahnen lenken. Ich kann nicht garantieren, dass dies lustig wird, aber es ist wichtig. Umso wichtiger, da Benachteiligung eben nicht nur Frauen betrifft, sondern uns alle. Nichts von dem, was Du hier lesen wirst, ist neu; es ist vielleicht nur nicht in diesem Zusammenhang gesagt worden. Ganz sicher aber ist es noch nicht oft genug gesagt worden. Also los. 
Schatz, was meinst Du damit? 
Dem Feminismus geht es um Frauen, nicht um Männer. Punkt. Ich habe nichts ‘gegen Männer’ oder ‘gegen Frauen’ per se (Diese Schutzimpfung gibt es noch nicht), und wenn ich ein Problem mit Hausarbeit habe, dann, weil sie mich langweilt. Ich verstehe mich als Feministin; das ist kein Schimpfwort. Der Feminismus ist eine Theorie (der Geisteswissenschaften, nicht nach K. Popper), und so sind die Bezeichnungen Mann und Frau notwendigerweise Denkkonstrukte – Du brauchst dich nur soweit angesprochen (und meinetwegen auch angegriffen) fühlen, wie du meinst, dein persönliches Verhalten darin wiederzuerkennen.  
Weiterhin soll unterschieden werden zwischen sex (biologisches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht). Dies ist hilfreich, denn nicht alles was biologisch gesehen weiblich/männlich (i.S.v. female/male) ist, ist auch gleichzeitig feminin/maskulin konnotiert. Wir reden hier natürlich gerade in Bezug auf gender von Stereotypen. Gender ist ein gesellschaftliches Konstrukt, aber nichtsdestotrotz sind die Konsequenzen nicht weniger real – Auch wenn wir persönlich denken, dass Rassismus schwachsinnig ist (wovon ich mal ausgehe), bestreiten wir ja nicht, dass es ihn noch gibt und das Leben vieler Menschen negativ beeinflusst.  
Desgleichen ist natürlich die Aufteilung in Frau und Mann eine unsägliche Vereinfachung. Geschlecht – genetisch, gonadal, genital, sozial und auch mental/emotional – ist zu kompliziert, um es als Dichotomie (d.h. ein Entweder/Oder) bzw. binäre Opposition zu betrachten. Ja, auch das biologische Geschlecht ist ein soziales Konstrukt. Es soll aber für unsere Zwecke ausreichen. 
So, jetzt aber genug um den heißen Brei herum geredet. Allen denjenigen Männern, die sich im Folgenden angegriffen fühlen, kann ich, mit freundlicher Unterstützung der Patriarchats, nur sagen: Du Heulsuse, benimm dich doch nicht wie ein Mädchen… Sei ein Mann! Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Oder bist du schwul, oder was? 
Schatz, das bildest Du dir nur ein. 
Es gibt genau eine Sache, die mich mehr in Rage versetzt, als die systematische Benachteiligung von Schwächeren, und das ist das Leugnen ihrer. Denn genau diese Haltung, mehr noch als offene Diskriminierung, macht es fast unmöglich, die bestehenden Unterschiede und Ungerechtigkeiten zu thematisieren. Und genau diese Haltung verdient es, als allererstes, bevor wir auch nur einen Schritt weitergehen, auseinandergenommen zu werden. 
1. Warum ‘systematische Benachteiligung’? Weil ein einzelnes Arschloch kein Problem darstellt – Ein Arschloch ist ein Arschloch ist keine Rose. Damit hat sich’s. Schlimm wird es, wenn es sich gar nicht um ein Arschloch handelt, sondern um das System, das die Menschen unwissentlich zu Arschlöchern macht. 
Ein Beispiel: Wenn ein Mathelehrer sagt, Mädchen könnten kein Mathe, ist er ein Arschloch. Wenn aber alle davon ausgehen, dass Mädchen kein Mathe können, dann führt dies selbst mit den besten Intentionen zu Folgendem: Mädchen werden seltener drangenommen (Ich will sie ja nicht bloßstellen | Das bringt doch eh nichts), ihre Fehler werden anders beurteilt (Mädchen können das halt nicht) und Unterschiede im Denken werden schnell als Unterschiede in der Qualität des Ergebnisses gewertet (Anderer Lösungsweg, gleiches Ergebnis, weniger Punkte: Handelt es sich um fehlendes Verständnis oder um andere Problemlösungsstrategien?).
Reaktion: ‘Ich komme seltener dran, meine Fehler werden hingenommen und nicht nochmal erklärt, ich halte den Unterricht auf… ich brauche mich nicht bemühen, denn ich kann es nicht ändern’ Mädchen melden sich nicht mehr. Sie lernen nicht mehr. Sie verlieren den Anschluss. Mathe wird langweilig. 
Die Konsequenz: Mädchen können kein Mathe, dementsprechend haben sie auch kein Interesse daran. Man führt einen Girls Day ein, an dem pinke Kreide verwendet wird, um Mathe interessanter zu machen. Die Mädchen malen Blümchen. Wir fühlen uns alle bestätigt. Sieg der Wissenschaft, juchee. 
Warum ist das schlimm? Einem Arschloch von Mathelehrer kann ich sagen: 'Du bist ein Arschloch.' Ich kann mich beschweren, die Klasse wechseln, oder ihn ertragen. Vielleicht wird seine Bemerkung soviel Reaktanz auslösen, dass ich in zwei Wochen eine Differenzialgleichung im Schlaf lösen kann. Wenn der Fehler aber im System, also der Institution Wissenschaft/Schule steckt, dann habe ich kaum eine Möglichkeit. Wahrscheinlich stelle ich selbst das gar nicht fest, denn Mathe interessiert mich ja nicht. Vielleicht habe ich aber, aus unbekannten Gründen, noch nicht alles aufgegeben. Was dann? 
2. Warum ist das Leugnen schlimmer als die eigentliche Benachteiligung? Setzen wir unser Beispiel fort: Ich kann nicht einfach abwarten, denn das System geht, im Vergleich zu einem einzelnen Lehrer, nicht weg. Also beschwere ich mich und werde belehrt, dass es niemandes Absicht sei zu diskriminieren. Und das stimmt sogar – man handelt ja nur auf Grund allgemein akzeptierter Annahmen. Dadurch aber passiert Folgendes:  
Möglichkeit a) Ich werde unsicher: ‘Reagiere ich vielleicht nur über? Vielleicht kann ich ja wirklich kein Mathe – oder wir alle? Vielleicht bilde ich mir das nur ein?’ Das ist die Reaktion vieler Frauen, besonders heutzutage, da die offensichtlichen Formen von geschlechtsspezifischer Ungleichbehandlung z.B. im Gesetz weitgehend abgeschafft und evolutionstheoretische Pseudo-Erklärungen wieder auf dem Vormarsch sind. Es endet damit, dass wir uns selbst die Schuld geben – bevor überhaupt Fragen gestellt wurde. Es endet mit Schweigen. 
Möglichkeit b) Ich beharre auf meinem Standpunkt: Wie aber kann ich ihn belegen? Es hört mir ja niemand zu. Das ginge nur, fänden wir genug Lehrer, die nicht von vornherein annehmen, XX und x=y+z gingen nicht zusammen. Dann könnte man sehen, ob Mädchen dort immer noch schlechter sind in Mathe. Das aber würde Infragestellen der eigenen Position voraussetzen.
Sind sie übrigens nicht: 
“Luigi Guiso of the European University Institute in Florence and his colleagues have just published the results of a study which suggests that culture explains most of the difference in maths, at least. In this week's Science, they show that the gap in mathematics scores between boys and girls virtually disappears in countries with high levels of sexual equality, though the reading gap remains. […] On average, girls' maths scores were, as expected, lower than those of boys. However, the gap was largest in countries with the least equality between the sexes (by any score), such as Turkey. It vanished in countries such as Norway and Sweden, where the sexes are more or less on a par with one another.” [Economist 2008
Zahlreiche Studien haben inzwischen belegt, dass die eindeutigen und faktisch unbestrittenen schlechteren Leistungen in Naturwissenschaften auch und gerade von den Einstellungen der Lehrenden und Lernenden abhängen [Überblick hier|Mehr hier]. Aber soweit muss ich erst einmal kommen in meinen Ausführungen – und bevor diese Studien überhaupt in Betracht gezogen werden, hat der Lehrer schon begegnet: ‘Aber das heißt ja noch lange nicht, dass das in unserem Unterricht auch der Fall ist. Ich glaube nicht, dass sich die anderen Mädchen benachteiligt fühlen. Vielleicht reagierst Du auch ein bisschen über, hm?’ Im schlimmsten Fall werden diese Studien gar nicht erst in Auftrag gegeben. Es endet wieder damit, dass wir selbst Schuld haben. Es endet mit Schweigen. 
3. Warum Benachteiligung von Schwächeren? Ha! werden jetzt wieder alle schreien: Sie nennt sich Feministin und erklärt, Frauen seien genauso gut wie Männer, aber wenn es ihr in den Kram passt, sind sie wieder die Schwächeren. Typisch. 
Nein, meine Herren, so einfach ist es nicht. Das Potential, das Frauen und Männer haben, ist (natürlich mit Varianz innerhalb des jeweiligen Geschlechts) erst einmal statistisch gleich. Nur die Erwartungen, wie und ob dieses Potential zu nutzen ist, sind unterschiedlich – und damit auch der Handlungsspielraum, der dem Individuum eingeräumt wird. 
Bevor ich jetzt in Hundertste komme und all die Situationen aufzähle, in denen Frauen vom System faktisch ausgebremst werden, möchte ich ein weiteres Beispiel für das bringen, was ich mit 'der Schwächere' meine: 
Drei Politiker treten im Wahlkampf gegeneinander an: Zwei haben viel Geld, einer nicht. Wäre es nun so, dass alle ihre Wahlwerbespots und Plakate aus ihrem Vermögen finanzieren sollten, so hätten die Reicheren die besseren Chancen gehört und damit gewählt zu werden. Dies aber sagt nichts über ihr politisches Können aus, genauso wenig wie über die Urteilsfähigkeit der Wähler (Das ist wichtig!), denn diese konnten nie zu einem unvoreingenommenen Urteil über alle Kandidaten gelangen. Tatsache ist aber, dass einer der Reichen gewählt wird, weil diese einen strategischen Vorteil hatten. 
Der Arme in diesem Fall ist der Schwächere, nicht aber der Unfähigere. Dabei liegt es nicht in der Absicht der Bevölkerung, ihn zu diskriminieren: Im Gegenteil, sie hat getan, was richtig ist – einen der politischen Kandidaten gewählt, von deren Position sie sich ein Bild machen konnte; von wem man nichts weiß, kann man nicht überzeugt werden. Unser System sieht vor, dass deshalb die Sendezeiten aller Kandidaten begrenzt und zugeteilt werden; wir schaffen virtuelle Gleichheit bei faktischer Ungleichheit. Falls es nun am System liegt, dass die einen reich und die anderen arm sind, so kann der arme Kandidat dies ändern wenn er dafür Unterstützung in der Wählerschaft findet. Wenn nicht, macht er schlechte Politik und wird nicht gewählt. Das nennt man Demokratie, und nichts weiter fordert Feminismus: Gleiche Chancen, nicht unbedingte Gleichheit.
Mein Problem ist nicht das Bestehen von Ungleichheit oder verschiedenen Ansichten an sich, sondern die Verweigerung, diesen Tatbestand anzuerkennen. Damit enthalten wir dem Schwächeren nicht nur die Möglichkeit vor, sich aus dieser Lage zu befreien, wir geben ihm auch noch die Schuld daran, dass er es nicht tut. Was sich im übertragenen Sinne abspielt, ist, dass viele Männer (und auch Frauen) agieren, als hinge die Sendezeit im Wahlkampf bereits von der Qualität der zu machenden Politik und nicht von den finanziellen Mitteln des Kandidaten ab. Und das ist Selbsttäuschung.
Weiter in Teil 2.


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