1. September 2008

nein, schatz, es ist nichts - #3

Wie sehen Frauen sich selbst?
Aufgabe: Zähle einen Tag lang, wie viele Frauen auf Plakaten und im Fernsehen: über- oder normalgewichtig, über 40, körperlich behindert oder – nur bezogen auf Werbung – den Witterungsumständen entsprechend bzw. vollständig bekleidet sind.
Eine Studie hat ergeben, dass Männer im Hintergrund eines Musikvideos in der Mehrzahl aller Fälle vollständig bekleidet sind. Frauen dagegen sind die Hälfte der Zeit so angezogen, dass ihre Brüste und Hinterteile entblößt sind oder klar im Vordergrund stehen. [Nach: ChildrenNow, Boys to Men: Media Messages About Masculinity, 1999]. 

Ähnliches ergab eine Studie von Videospielen, nach der weibliche Charaktere oft stark sexualisiert sind – sie tragen enge, freizügige Kleidung, haben unrealistisch große Brüste und unnatürlich schmale Taillen. [Nach: Girls and Gaming, Children Now; 2000.] 

In der Werbung werden sexualisierte weibliche Körper häufiger verwendet als männliche. Eine Erhebung aus dem Jahre 1997 ergab, dass weiße Frauen in rund 62% aller Spot 'wenig bekleidet', also in Bikini, Unterwäsche, etc. waren, während dies in 53% der Fall bei schwarzen Frauen war. Für Männer liegt der Schnitt bei 25%. Frauen wurden auch öfter in Positionen von Machtlosigkeit gezeigt; schwarze Frauen waren oft in Tiermustern und Angriffshaltung zu sehen. [Nach: Racial and Gender Biases in Magazine Advertising, S. Plous and D. Neptune, 1997, Psychology of Womens Quarterly] 

Nach einer Studie von 1992 an der Stanford University fühlen sich 70% aller Frauen schlechter fühlten in Bezug auf sich selbst und ihren eigenen Körper, nachdem sie (Frauen-)Magazine betrachtet hatten. (Eine britische Studie führte zu ähnlichen Ergebnissen.)[Nach: Body Wars]. 

In Familien- und Kinderfilmen stellen Jungen die Mehrheit der Hauptcharaktere und Erzähler. ["Where the Girls Aren't: Gender Disparity Saturates G-Rated Films"go to "Research"; research by SeeJane.org and the Annenburg School of Communication 2006.] 
[Über: about-face.org – Übersetzung meine]
Warum erzähle ich das alles? Weil ich mich an Gespräche erinnere, in denen mir gesagt wurde, ich lebe nur meinen eigenen Verfolgungswahn aus (dabei hatte ich beschlossen, ihnen vorerst nichts von den Fledermäusen zu erzählen) oder dies habe letztendlich keinen Einfluss auf einen selbst – man wisse ja, es sei nur Fiktion.
Aber wenn ich ins Fernsehen schaue, auf Werbeplakate; wenn ich Kinderbücher lese, Zeichentricks sehe; wenn den Schulmädchen im Bus zuhöre, den Studentinnen an der Haltestelle, erkenne ich mich nicht.

Eine singt:
Ich war in ferner Fremde Kind, 
bis ich mich: arm und zart und blind - 
aus meinem Schämen schlich;
ich warte hinter Wald und Wind
gewiss schon lang auf mich.  Ich bin allein und weit vom Haus
und sinne still: wie seh ich aus? – Fragt jemand, wer ich sei?
             .. Gott, ich bin jung und
                        ich bin blond
            und habe ein Gebet gekonnt
und geh gewiss umsonst umsonnt
und fremd an mir vorbei...  

Rilke wird es mir verzeihen, dass ich sein Gedicht ein wenig aus dem Kontext reiße und es für meine Zwecke verwende. Dazu ist es da. Texte muss man sich zu eigen machen; dabei verstehe ich es nicht einmal. Was ich aber darin lese ist dieselbe Entfremdung vom eigenen Dasein, die mich jedes Mal ergreift, wenn ich wieder zu viel Zeit in der Innenstadt, im Kaufhaus, auf den falschen Websites, unter den falschen Menschen verbracht habe. Ich erkenne mich nicht mehr.
Wie sehen Frauen sich selbst? Im Spiegel – aber sie sehen nie ein Ganzes. Unsere Augen haben gelernt, wie die Kamera eines Regisseurs zu funktionieren; ich stelle mich vor einen Spiegel und fahre meinen eigenen Film ab. Und genau wie im Film ist mein Körper kein Ganzes, in dem ein lebendiger Geist steckt, sondern Problemzonen aneinandergereiht. Wie eine Karte vom Nahen Osten, Problemzone an Problemzone, und mittendrin ein unwahrscheinlicher Alliierter.
Wir partitionieren, selektieren, zerschneiden uns. Manchmal wortwörtlich. Wir sind kein Körper, sondern Celluliteschenkel, Schwangerschaftsstreifenbauch, Hängebrüste, Schwabbelarme, Faltenkinn, Krummbein. Wir sehen uns, und finden uns zum Kotzen. Manchmal wortwörtlich.
Die Linse in unserem Gehirn sagt: 'Taille konvex, nicht konkav.' Das Mikroskop im Kopf fügt hinzu: 'Da, Pickel. Außerdem wächst dir ein Haar auf der Brustwarze.' Das Kameraauge: 'Dein Hintern wackelt, wenn du dich drehst.' Das Störbild geht an. Dann schreit der Bullshit-Detektor los: Stop! Moment mal! Geht's noch? Und ich atme erleichtert auf. Was für eine gute Investition, das Ding! Wenn es nur nicht immer wieder mal ausfallen würde...
Woher dieser Wahn? Ich weiß nicht, wie es euch geht, liebe Schwestern, aber ich erkläre das so: Wenn ich auf die Straße gehe, sehe ich Frauen aller Formen und Altersklassen. Aber das sind verschwindend wenig im Vergleich zu denen, die mir in der kulturellen Realität der Medien und des täglichen gesellschaftlichen Diskurses begegnen. Und allen Frauen auf der Straße scheint es ähnlich zu gehen: Unsere Vergleichsmöglichkeiten, unsere Vorbilder, unsere (role) models sind dünn, wenig bekleidet. Sie warten darauf, angeschaut zu werden. Sie laden ein, zu schauen. Und sonst tun sie nichts. Sie dienen einzig und allein diesem Zweck, haben keine andere Funktion. Aber darin sind sie perfekt.
Manchmal, sehr oft sogar, haben sie nicht mal ein Gesicht: 
Da ist nur ein Körper, der darauf wartet, dass ich meine Wünsche, Ängste, Nöte auf ihn projiziere. Es muss nicht einmal ein ganzer Torso sein – das wäre ja auch übertrieben – schließlich lässt es sich in vielen Fällen ja ganz einfach auf das reduzieren, was wir sind: 
Ein Paar Titten, ein Paar Beine, ein Paar Arschbacken. Alle wunderbar geformt, ohne Makel. Wie der Rest der Frau aussieht, ob sie hübsch ist, intelligent schaut, was sie eigentlich macht oder in welcher Situation sie sich befindet, das sehe ich nicht – das soll ich auch nicht sehen, denn darum geht es nicht. Die ultimative Dekontextualisierung.
Und auch die Botschaften, die uns erreichen, sind perfide und subtil. Gerade in Bezug auf Figur, Nahrung und Gewicht werden wir bombardiert mit sich gegenseitig ausschließenden Messages: 'Ich will so bleiben, wie ich bin.' 'Weil ich es mir wert bin.' 'Jede Haut ist schön.' 'Natürlich schön.' 'Denn Schönheit kennt kein Alter.' und andererseits sehe ich, welcher Typ Frau abgebildet wird: Jung, dünn, hübsch, weiß.
"75% of fitness articles in popular women's magazines encourage readers to exercise to be more attractive, whereas only 40% focus on improved health or well-being." [Olmsted/McFarlane]
Ich soll mein Leben genießen, teures Essen kaufen, mich verwöhnen – und dabei, bitte schön, gut aussehen. Diese Anzeige zum Beispiel fasst eigentlich alles zusammen, was noch zu sagen wäre:
Der Text: "The pair [Anm.: of shoes] you wear to cooking class will also look fabulous at your weight loss seminar."
Moment, ich muss eben den Alarm an meinem Cognitive Dissonance & Bullshit Detector™ (CDBT) ausstellen. So. – Frau soll also kochen, genießen, und dabei so hübsch, niedlich, nett und dünn sein, wie die Dame hier im Bild. Die übrigens, falls es euch nicht aufgefallen ist, abnehmen muss. – Moment, es piept schon wieder.
Natürlich erzählt mir jetzt wieder die Hälfte aller Frauen, dass sie sich überhaupt nicht von solchen Botschaften beeinflussen lassen, diese einfach ignorieren, sie auch sowieso viel zu selbstbewusst seien, um sich das einreden zu lassen. 
Warum, frage ich, endet dann jede Feier und jedes Gespräch in einer kostenlosen Ernährungsberatung? Warum fragt mich eine Freundin wiederholt, wie viel ich denn jetzt so wiege – als erkundige sie sich nach meinem Wohlbefinden? Ich muss ja sagen: Wenn ihr wirklich so unbeeinflussbar, unabhängig, außerhalb des gesellschaftlichen Diskurses seid, dann ist das beneidenswert. (Lebt ihr noch?) Dieser partielle Konsumkultur-Autismus mag erstrebenswert sein, aber ich glaube nicht an ihn, und das aus zwei Gründen: 1. Bei mir funktioniert es. Leider. 2. Werbung, Fernsehen, Frauenzeitschriften werden nicht nur für mich konzipiert. Leider.
Natürlich ist mir klar, dass niemand wirklich so aussehen kann. Zwei amüsante Belege will ich euch nicht vorenthalten: Hier. Und dieses Bild hier (Sorry, PhotoshopDisasters, hope you don't mind):
Nicht nur gehören die Frauen, die uns tagtäglich als Spiegelbild, Maßstab, Messlatte vorgehalten werden, zu den 10%, deren Körperbau überhaupt dazu geeignet ist so auszusehen, sie sind auch noch kräftigst nachbearbeitet. Ja, es ist deprimierend, nicht mal Models sehen aus wie Models – wenn wir perfekt werden wollen, müssen wir uns digital nachbearbeiten lassen.
Aber es sind nicht nur die Medien, die mein Selbstbild beeinflussen. (Ich glaube ja immer noch, sie tun dies zu einem kleineren Teil, als das bei anderen Fall ist, so ohne Fernsehen und Frauenzeitschriften. Aber da ist wohl mehr der Wunsch Vater des Gedanken.) Die Medien sind ja nicht nur Macher, sondern auch immer Spiegel dessen, was in unserer Gesellschaft vor sich geht. Von der Mutter, die ihrem Kind sagt: 'Iss nicht so viel, Du wirst sonst dick', bis hin zu folgendem Wortwechsel:
Männlich Mitte 20 A: Ey, dich würd ich jetzt ficken. 
Männlich Mitte 20 B: Nee, schau dir mal den fetten Arsch an. 
Männlich Mitte 20 A: Stimmt. Ey, ich fick dich doch nicht. 
(Danke, da bin ich aber froh! Es ist doch auch zu schön, dass ihr von dieser Möglichkeit noch einmal abseht, denn da wäre ja noch die dumme Frage zu beantworten gewesen, ob ich daran überhaupt Interesse gehabt hätte und das hätte ich ausnahmsweise verneinen müssen.) 
Dies ist kein Einzelfall; schon in der Schule kommentieren Jungen frank und frei das Aussehen und die diversen Vorzüge und Nachteile einzelner Mädchen – in Hörweite. Und da liegt das Problem. Diese Kommentare bekommt man nicht nur auf dem Schulhof zu hören, sie ziehen sich durch das gesamte Leben und setzen sich fort auf dem Arbeitsplatz und in den Medien. Wo wir gehen und stehen wird unser Aussehen ausgewertet, bewertet, überbewertet. Denn das Ideal, das wir uns zu Eigen gemacht haben, lässt auch andere nicht kalt – egal, was sie sagen. Lieber Leser, sei ehrlich zu dir: Hat dein Ideal von einer Frau drei Kilo zu viel auf den Rippen, Cellulite und Ringe unter den Augen? 
"Women's appraisal of self-worth is determined by appearance, particularly as revealed by the female body or body parts. Hiding or severing a person's features, particularly facial features (which often reveal cues about a person's identity/uniqueness), enables the observer's attitude to shift towards objectification: treating and thinking about the subject as an object without needs, feelings or humanity. (Dittrich, 1999)." [Via: about-face.org]
So, und jetzt stehe ich da, und fühle mich schlecht, weil ich nicht so aussehe, wie ich denke, dass andere denken, dass ich aussehen sollte. Ob sie das wirklich denken, ist völlig egal. Worum es geht, ist, dass ich mich nach einer Weile von nichts anderem mehr überzeugen lassen werde, denn ich höre Einzelmeinungen, von eventuell auch noch wohlmeinenden Bekannten – ich sehe aber allerorten das genaue Gegenteil. Dann sehe ich an mir herab und stelle fest: Ich habe versagt. Trotz aller Bemühungen bin ich nicht perfekt. 
Jetzt habe ich zwei Möglichkeiten: 
1) Ich bemühe mich noch mehr. Ich renne, ziehe, zupfe, hungere – solange, bis ich nicht mehr kann und vor Erschöpfung kotzen könnte. Was ich dann auch tue. Was übrigens zwischen 6 und 10 Prozent aller Mädchen regelmäßig tun – andere Schätzungen für zumindest gelegentliches 'purging behaviour' (Erbrechen, Abführmittelmissbrauch, exzessive körperliche Betätigung) liegen zum Teil bei 17%. 
Besorgnis um das Aussehen des eigenen Körpers und ständiges Diäthalten sind bei Frauen so weit verbreitet, dass sie als statistisch 'normal' gelten müssen; dies führt zu zwecklosen und selbstzerstörerischen Einstellungen sowie Verhaltensweisen. Eine bedeutende Anzahl von Frauen berichtet, dass sie berufliche, romantische und soziale Aktivitäten hintenanstellten, bis sie Gewicht verloren hätten. Für viele Frauen ist ihr Selbstwertgefühl eng mit Gewicht und Figur verbunden und negative Gefühle gegenüber dem eigenen Körper werden generalisiert und auf das gesamte Selbst bezogen. Diese übersteigerten Bemühungen, schlank zu sein, sind ein Risikofaktor in der Entwicklung von Essstörungen. Besonders gefährdet sind Frauen mit perfektionistischem Wesen, mit geringem Selbstbewusstsein oder solche mit psychischen Leiden wie Depressionen oder Angsterkrankungen. Darüber hinaus verschwenden Millionen kanadischer Frauen, die nie eine Essstörung entwickeln, Zeit und mentale Energie in der Verfolgung des Schlankheitsideals, wobei die Mehrheit erfolglos und unzufrieden mit ihren Körpern bleiben und sich selbst die Schuld daran geben wird. [Olmsted/McFarlane – Original Englisch, Übersetzung meine]
2) Ich bemühe mich noch mehr. Ich renne, ziehe, zupfe, hungere – solange, bis ich nicht mehr kann und vor Erschöpfung kotzen könnte. Ich stelle fest, ich finde mein Leben zum Kotzen und bin nicht glücklicher als vorher. Ich kaufe mir einen CDBT.

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